Mitte der ersten Woche lerne ich fröhlich weiter. Gestern Abend im Hauptpostamt ein Massenauflauf auf zwei Etagen - alle wollen die Möglichkeit der Briefwahl bei den vorgezogenen Parlamentswahlen nutzen, den vierten in ebenso vielen Jahren. Also stellen sie sich um 7 Uhr abends an, um die nötigen Zettel zu bekommen. Ich lasse mir das System erklären, einen zweiseitigen Brief samt Stempel zeigen, doch verstehen tu ich nicht viel. Man will eine handlungsfähige Regierung, aber die Mächtigen wollen mit den Falschen koalieren. Ich höre den Ausdruck mochila austríaca, österreichischer Rucksack, im Zusammenhang mit Brüssel. Was er bedeutet, versteh ich nicht.
Ums Eck von meiner Wohnung, in der endlich ein funktionierendes Fernsehgerät steht, findet eine Verkaufsausstellung im Freien statt, die ich mir nicht entgehen lasse, da ich hier mit Einheimischen ins Gespräch kommen kann: An die zwanzig Holzbuden, länger als auf unseren Weihnachtsmärkten, dominieren einen großen länglichen Platz. Händler aus ganz Andalusien, auch aus Valencia und sogar aus der Hauptstadt zeigen und wollen verkaufen, was sie haben. Und wie schon in Valencia sind es Bücher, alte, sehr alte und neue, Comics neben Mein Kampf, Werbeplakate für Granada aus den 50er Jahren, Kinder- und Kochbücher, und alle auf Spanisch. Nicht ein Titel auf Valenciano oder Catalán. Hurra, ich könnte sie alle lesen. Wenn ich Zeit hätte.
Abendlicher Büchermarkt an der Puerta Real |
Die Zeit vergeht viel zu schnell, ich schau mir eine Fernsehdebatte der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten an und plötzlich habe ich eine Stunde verschwendet.
Heute sehe ich, dass Nachmittagsunterricht (täglich bis 14.45!) Zeitverschwendung sein kann, wenn die Lehrerin nicht für Arbeitsdisziplin sorgt. Und ich erlebe ein Privatissimum im Raum für Special Needs-Schüler, wo sich eine Lehrerin und eine Hilfskraft um zwei junge Männer kümmern, die auf dem Niveau der zweiten Volksschulklasse lernen und Spaß haben und auf das Erwachsenenleben vorbereitet werden. Eigentlich wollte ich nur die Stützlehrerin zu ihrem Heimatdorf in den Bergen befragen, doch ich bleibe eine ganze Stunde und spreche mit den Jugendlichen auf Englisch und doch wieder Spanisch und dann wieder Englisch. Sie wissen nicht, wo Österreich liegt, also suchen wir es auf der Landkarte an der Wand des toll ausgestatteten Arbeitsraumes, der die Motivation und Sorgfalt der beiden Kolleginnen spiegelt. Es gibt relativ viele Schülerinnen und Schüler hier, die Förderbedarf haben aufgrund von Autismus, Legasthenie, ADHS oder Erkrankungen des motorischen Nervensystems. Sie alle werden individuell unterstützt und besuchen den regulären Unterricht. Nur zwei Schüler, Carlos und Jose (ja, ohne Akzent, weil ihm diese Betonung besser gefällt), sind heuer in der separaten Special Needs-Gruppe, und auch sie haben einige Unterrichtsfächer mit gleichaltrigen gesunden Teenagern, z.B. Sport und Musik. Zu Beginn der halbstündigen Pause werden die beiden von Freunden zum Fußballspielen auf dem Sportplatz abgeholt, der als Pausenhof fungiert, wo ein paar KollegInnen Aufsicht haben, den Kindern aber sehr viel Freiraum geben. Hier ist der einzige Ort, wo mir die spanischen Schülerinnen und Schüler nicht lauter vorkommen als unsere in Österreich. Dreißig Minuten Vormittagspause sind großartig, schon wegen meiner täglichen Doppelportion Orangensaft im Schulbuffet.
Von zumo de naranja allein kann ich nicht leben, aber so viel Mittagsessen wie heute ist wahrscheinlich auch nicht gut. Mit den sieben Kolleginnen und Kollegen des English Department, darunter der Herr Direktor, sitze ich von drei Uhr bis nach sechs beim Essen und koste mich durch: Kabeljau gebacken mit etwas Reis, Thunfisch gebraten mit Balsamico, Melanzani gebacken mit Honig, mit Schinken und Käse gefüllte Kroketten, Sardellen im Backteig, Tintenfisch gebacken, Salat mit Nüssen, Thunfisch, Avokados und Käsestückchen, und vielleicht noch andere Tapas und Vor- und Hauptspeisen, die ich schon vergessen habe. Weil die Schokotorte nach Art des Hauses nicht mehr vorrätig ist, müssen die Englisch-Koordinatorin Emilia und ich Schokomousse bzw. Milchreis löffeln. Sehr lecker, wie auch die Topfentorte. Schleck schleck.
Dass mir niemand die Speisekarte wegnimmt! |
Ich bin angenehm satt und habe mich gut unterhalten, ohne auch nur annähernd alle Anekdoten zu verstehen, die reihum erzählt wurden. Wir entdecken viele Gemeinsamkeiten zwischen Andalusien und Österreich, besprechen das ERASMUS+ Projekt ADELE und ein paar schulische Angelegenheiten, vor allem aber genießen wir den späten Nachmittag. Manchmal ist ein Hospitationspraktikum ein wahres Honiglecken.